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Das Münster St. Bonifatius Hameln im 19. Jahrhundert und heute

Erstveröffentlichung von „Wie das Münster gerettet wurde“ am 17.7.2021 sowie „Als Fresken das Hamelner Münster schmückten“ am 24. Juli 2021 in der DWZ Hameln - hier die ausführliche Fassung.
Der Verfasserin Dr. Marion Müller herzlichen Dank

Wie das Münster gerettet wurde



Senior-Schläger-Denkmal vor der Nordseite des Münsters St. Bonifatius
Quelle: Photo-Pracht Hameln, Aufnahme 1970erJahre. Münster-Kirchenarchiv


Senior Schläger setzte sich für den Erhalt des Hamelner Gotteshauses ein
Hamelns älteste Kirche - um 1241 nach einem Brand wieder aufgebaut - stand kurz vor dem Abriss. 1803 war von Pastor Paul Röpke im Hamelner Münster der Gemeinde das vorläufige Ende kirchlicher Handlungen mitgeteilt worden. Bereits ab 1782 hatten dort nur noch gelegentlich kirchliche Amtshandlungen stattgefunden.
Doch welche Geschehnisse hatten zum Verfall der Kirche beigetragen? Der instabile Gebäudezustand des Hamelner Münsters wird durch den Abriss des dreiflügeligen Kreuzgangs im Jahr 1760 beschleunigt worden sein. Wilhelm Mithoff berichtete, dass der Kreuzgang des Münsters (um 1220 erbaut) 1433 geweißt und 1699 repariert worden sei.
Heute fragen sich Besucher des Münsters St. Bonifatius: „Wie sah der Münster-Kreuzgang überhaupt aus?“.
An drei Stellen der äußeren Kirchen-Südwand sind steinerne Türlaibungen erhalten, die nach dem Abriss des Kreuzgangs vermauert worden sind. Indirekt wird damit auch die Position der nun überputzten Kreuzgangzugänge ins Kircheninnere angezeigt. Einer davon befand sich quasi im 1. Stock (östlicher Teil des Südschiffs) über der im Erdgeschoss liegenden Kreuzgangtür. Ein Weg von der Schule ins Münster führte über den Emporen-Gang, welcher Schüler, Lehrer, Stiftsherren (Aufhebung des St. Bonfatius-Stifts 1848) und Priester/Vikare zum Hohen Chor leitete - Teilabriss der Schule 1846. Mit der Einweihung des neu erbauten städtischen Gymnasiums für „Knaben“ am Münsterwall (1850), dem heutigen Schiller-Gymnasium für Mädchen und Jungen in der Gröninger Straße, war zugleich über die alte Stiftsschule das endgültige Aus gesprochen worden (Abriss 1852). Der Gymnasium-Neubau war bereits 1850 nah dem Münster am Standort der derzeitigen Elisabeth-Selbert-Schule entstanden. Eine rekonstruierte, nahezu baugleiche Fassung des Münster-Kreuzgangs kann am St. Marien-Dom in Hildesheim besichtigt werden; vormals im gotischen Stil als zweigeschossige Dom-Kreuzganganlage 1150 erbaut. Nach der Zerstörung der sakralen Gebäude im Zweiten Weltkrieg ist in Hildesheim der Wiederaufbau von Dom und Kreuzgang erfolgt.

Kirchenerhalt oder Abriss?


Die darüber geführte Diskussion findet sich seit 1823 in den von Schläger herausgegebenen „Hamelnschen Anzeigen zum Besten der Armen“ sowie seit 1848 in Ausgaben der „Deister- und Weserzeitung Hameln“. Von ihm verfasste sowie veröffentlichte Berichte und Aufrufe lassen den Schluss zu, dass Hamelns Pastor primarius seine Möglichkeiten ausschöpfte, um auch überörtlich für den Erhalt des Münsters zu werben.
Darüber hinaus zeigte sich Schläger zeitlebens - davon fast fünfzig Jahre in Hameln - auf vielfache Art und Weise als „Häuserbauer“. So legte Hamelns Hauptpastor 1832, zehn Jahre nach seinem Dienstantritt in Hameln, der Ständeversammlung in Hannover politische Forderungen vor. Dem „Parlament des Königreichs“ beschrieb er soziale Unzulänglichkeiten, welche das Gemeinwesen allgemein betrafen sowie Hamelner Verhältnisse ansprachen. Unzureichende Pastorengehälter und die geringe Versorgung der Pfarrwitwen wurden von Schläger beklagt.
Scheinbar beiläufig sprach er auch den immer noch nicht begonnenen Wiederaufbau des Hamelner Münsters an.

Schläger trat auch als Schul- und Bildungsreformer hervor


Sein Anteil an der Gründung des heutigen Viktoria- Luise-Gymnasiums in Hameln ist umfassend dokumentiert. So wird beschrieben, dass Senior Schläger am 11.September 1823 in den „Hamelnschen Anzeigen zum Besten der Armen“ zur Gründung einer neuen Töchterschule aufgerufen hatte. Zur Unterrichtsaufnahme der späteren Vikilu kam es dann am 26. April 1824.
Auch in Hann. Münden, wo Schläger von 1806 bis 1815 in seiner ersten Pastorenstelle tätig war, initiierte er die Gründung einer Schule. „Alles, was bis dahin für die Mädchenschule in Münden geleistet wurde, geschahe durch den reinen Patriotismus des Stifters (Pastor Schläger) dieser Schule“, betonte seinerzeit Caspar Rigert in einer Sammelrezension von Schlägerschen Schriften. Weiter heißt es dort: „Er gab zur Errichtung derselben zwey Zimmer in seiner (Mündener) Amtswohnung unentgeltlich her, ertheilte wöchentlich in acht Lehrstunden den Unterricht in der Religion, in der Geschichte und Geographie, in der deutschen Sprache und in Verstandesübungen, ohne eine andere Belohnung, als die Freude zu gewinnen, die in dem Bewustseyn liegt, Menschenwohl befördert zu haben.“ Der Kritiker merkte an, dass aus anfangs zwölf Schülerinnen bis 1810 mittlerweile vierzig geworden waren. „Herr S. (Schläger) macht Hoffnung dazu, daß noch eine dritte Classe, dem Elementarunterricht bestimmt, werde errichtet ….“ Die Mädchenschulen - später als Höhere Töchterschulen beziehungsweise Lyzeum bezeichnet - werden mit den Klassen 5 bis 10 zu Vorläufern des Mädchengymnasiums. Dieser Bildungsschritt vollzieht sich für Mädchen „etwas“ später als für Jungen. Beispielsweise sind für Hann. Münden bereits Schulgründungen für die „Höhere Knabenbildung“ aus dem 14. Jh. bekannt.

Schlägers Blick für fehlende Schulangebote fiel auch auf die Zielgruppe der blinden und sehbehinderten Kinder. Er hatte die feste Vorstellung, dass die erste Blindenschule des Königreichs Hannover in Hameln gebaut werden sollte - später dann in den Städten Hildesheim und Göttingen. Doch der hannoversche König Ernst August I. hatte andere Pläne, zumal das Ende der Personalunion Großbritannien/Hannover mit dem Beginn seiner von 1837 bis 1851 dauernden Regentschaft zusammenfiel und er nicht in London, sondern „nur“ in Hannover residierte. Ungewollt „wanderte“ Schlägers Schulprojekt von Hameln nach Hannover, wo nahe der Hildesheimer Straße (damals Hildesheimer Chaussee) 1843 die „Königliche Blindenanstalt“ erbaut worden ist.
Die Enttäuschung war sicher groß. Eine auf 1842 datierte, nicht signierte Lageskizze lässt annehmen, dass Hamelns Hauptpastor bereits mit dem Hamelner Magistrat über ein geeignetes Grundstück für die „Hamelner Blindenschule“ in Verhandlung gestanden hatte. Sie sollte vor dem östlichen Stadttor liegen. Das für die Blindenschule vorgesehene Grundstück grenzte an den heutigen Bürgergarten (damals Exerzierplatz); über eine schmale Fluthamel-Brücke sollte sogar der Zugang zur Schule ermöglicht werden. „Pastor Schläger habe die Erbauung der Blindenanstalt angeregt“ heißt es heute auf dem Straßenschild der nach ihm benannten Schlägerstraße in Hannover. Schläger selbst erlebte noch, dass trotz der Ablehnung des von ihm vorgeschlagenen Schulstandortes Hameln seine pädagogischen und organisatorischen Kenntnisse gefragt blieben. Denn die Realisierung der hannoverschen „Blindenanstalt“ fußte maßgeblich auf sein Blindenschul-Konzept.
Senior Schläger konnte damals noch nicht ahnen, für wie viele „Häuser“ er Bauherr werden würde. Einige davon haben bis heute Bestand – wie das Hamelner Münster St. Bonifatius mit seinen beiden Fördervereinen. Pastor Schläger nahm das 1840 im Königreich Hannover begangene 300jährige Reformationsjubiläum zum Anlass für die Gründung eines Kirchenbauvereins. 130 Jahre danach (1970) trat ein Nachfolgeverein zusammen, die „Freunde und Förderer des Münsters St. Bonifatius zu Hameln e.V.“. Vorstand und Mitglieder setzen sich bis heute ebenfalls für den Erhalt und die Ausstattung des Hamelner Münsters ein.

Doch wie ging die „Münsterrettung“ vor sich?



Lithografie: „Münsterkirche zu Hameln“ - Südöstlicher Blick auf das Münster in Hameln. Quelle: W. Mithoff
„Kunstdenkmale und Altertümer im Hannoverschen“ - Band 1: Fürstenthum Calenberg, Hannover 1871
Wenige Monate vor Beginn der umfangreichen Sicherungsarbeiten an Hamelns ältester Kirche war deren „Retter“ Senior Schläger im 89. Lebensjahr verstorben. Auf vielfache Art und Weise hatte Hamelns Hauptpastor zuvor den Wiederaufbau und damit auch die in einem Gottesdienst gefeierte (erneute) Einweihung des Münsters St. Bonifatius mit vorbereitet.
Dazu gehörte auch, dass Schläger in seinen letzten Lebensjahren – über das Ende der welfischen Regentschaft in Hannover (1866) hinaus – den Kontakt zu Hofbaurat Conrad Wilhelm Hase in Hannover nicht hatte abreißen lassen. Geändert hatte sich allerdings dessen Postanschrift, da in preußischer Zeit an Baurat Hase gerichtete Briefe nach Berlin „reisen“ mussten.
In der preußischen Residenzstadt wird ihn auch die „Einladung als Ehrengast“ zu einem besonderen Münstergottesdienst erreicht haben. Schließlich hatte Hase verantwortlich für den Wiederaufbau von Hamelns ältester Kirche gezeichnet. Sonntag, den 13. Juni 1875: Auf den Gottesdienst im festlich geschmückten Hamelner Münster folgte vor dem Gotteshaus die Denkmalübergabe an Vertreter des Hamelner Magistrats. Während der Zeremonie waren sich wohl alle Festbesucher einig: Der hier geehrte Dr. theol. h.c., Dr. phil. h.c. Franz Georg Ferdinand Schläger (1781 bis 1869) wird nicht nur den Anwesenden in Erinnerung bleiben.

Hamelns ältestes Gotteshaus wird „in letzter Minute“ gerettet


Nahezu 100 Jahre hatte die unmittelbar am östlichen Weserufer gelegene sakrale Ruine einen traurigen Anblick geboten. Denn, so der fachkundige Beobachter, der „Königliche Ober- Baurath“ Wilhelm Mithoff (1811-1886): „(…) die Fenster (sind) ihrer Verglasung beraubt; Regen und Schnee haben bei der Undichtigkeit der Bedachung (…) ihren zerstörenden Einfluss geltend machen können. (…) Hoffentlich wird dieser Umstand eine Mahnung sein, jetzt endlich zur Rettung des Münsters zu schreiten“.
Von Conrad Wilhelm Hase war mahnend geäußert worden, dass es dem Münster in Hameln doch nicht so, wie dem Goslarer Dom, ergehen solle. Dort war in den Jahren 1819 bis 1822 die im Bezirk der Kaiserpfalz gelegene, vormalige Stiftskirche St. Simon und Judas verkauft worden. Offenbar war von dem neuen Eigentümer kein Gebäude, sondern nur „ein Steinbruch aus dem 11. Jahrhundert “ erworben worden; nur die Dom-Vorhalle blieb erhalten.
Und was geschah mit dem seit Jahrzehnten vom Einsturz bedrohten Hamelner Münster? Im Herbst 1870 sollte endlich mit den Arbeiten an Hamelns ältester Kirche begonnen werden. Befürworter des Münstererhalts, wie Architekt und Hofbaumeister Wilhelm Mithoff aus Celle, werden aufgeatmet haben. Denn die nun (ab 1866 war Preußen zuständig) durch das Konsistorium geplante Kirchenbaumaßnahme war zwar in welfischer Zeit mehrmals begonnen worden, doch ein sachgerechter Bauabschluss hatte stets auf sich warten lassen. Kurz vor Beginn der Arbeiten am Münster erfuhr der 1868 pensionierte Hofbaumeister Wilhelm Mithoff von der Vergabe der Bauleitung an Conrad Wilhelm Hase. Dieser nahm als erfahrener Architekt und Bauleiter zunächst die Überprüfung des Kirchenfundaments als wichtigste Erhaltungsmaßnahme vor. Dann kamen Probleme des Hochbaus zur Ausführung,
wie Niederlegung und Erneuerung der Langhaus-Nordseite, Restaurierung des Vierungsturms sowie des dreigeschossigen Kapitelhauses und der zweiteiligen Krypten-Anlage.
Auch Mithoff wollte wohl seinen „Beitrag zum Münstererhalt“ leisten. In Band 1 des gerade fertig gestellten baugeschichtlichen Nachschlagewerks - „Kunstdenkmale und Alterthümer im Hannoverschen“, Hannover 1871 - fügte er noch eine tagesaktuelle „Bemerkung“ über  den Baubeginn am Hamelner Münster ein. Kurz und knapp teilte Wilhelm Mithoff seinen Lesern zur „Bauangelegenheit Hamelner Münster“ mit: „Besonders aufmerksam zu machen ist aber … auf die im Herbst 1870 erfreulicher Weise begonnene, dem Herrn Baurath Hase in Hannover anvertraute Restauration der Münsterkirche zu Hameln“. Doch warum hob Mithoff gerade Hameln aus dem Kreis der Städte im „Calenberger Land“ hervor? Die betreffende Schülerliste des städtischen Gymnasiums in Hameln könnte Auskunft geben. Mithoffs Vater Carl Friedrich Wilhelm Mithoff war 1781/1782 dort Schüler gewesen. Direkt gegenüber dem Münster St. Bonifatius gelegen, fand zu seiner Zeit die „Höhere Knabenbildung“ in der „Alten Lateinschule“ statt. Mit Blick auf die Südwand des Kirchenschiffs bot ein Schlafsaal Unterkunft.

Fresken zierten früher das Münster


Auf welchen Wand- und Deckenflächen bzw. Pfeilern und in welchem Umfang sich mittelalterliche Fresken unter der heutigen Bemalung im Münster St. Bonifatius befinden, ist nicht dokumentiert. Die derzeit vorhandene helle Farbgebung entspricht weitgehend einer 1384 vorgenommenen Ausmalung des Kircheninnern.

Der Schmerzensmann, Pfeilerfresko 1384. Münster St. Bonifatius Hameln. Quelle: Gigger/Privat
Auf dasselbe Jahr wird das einzige gotische Fresko datiert, das auf die Fläche des Südwest-Pfeilers im Münster St. Bonifatius aufgetragen worden ist. Es ist nicht bekannt, ob der in der Art eines Tafelbildes gefertigte „Schmerzensmann“ in einem Sinnzusammenhang mit weiteren, uns heute ebenfalls verborgenen Malereien steht.

Hoher Chor, Münster St. Bonifatius, Inhaber und Mitarbeiter des Hamelner
Malerbetriebs Ludwig Brandt bei Restaurierungsarbeiten an den Wandmalereien, Aufnahme 1911/1912.
Quelle: Privatarchiv H.-J. Brandt



Hofbaumeister Conrad Wilhelm Hase


Er sorgte für das neugotische Erscheinungsbild des Hamelner Gotteshaus.
Das Münster St. Bonifatius befand sich Ende des 18. Jahrhunderts in desolatem Zustand. Der Abriss des Gotteshauses drohte. Unermüdlich setzte sich Senior Schläger für den Erhalt des Gebäudes ein. Schließlich wurde die Sanierung des Münsters in Angriff genommen. Und zwar unter Leitung des königlich-hannoverschen Baurats Conrad Wilhelm Hase.
Über Hofbaurat Conrad Wilhelm Hase werden welfische Erbfolgeregelungen Einfluss auf den Wiederaufbau des Hamelner Münsters nehmen. Denn im Zeitraum 1714 bis 1837 stellte das „Welfische Haus Hannover“ fünf Könige, welche in Personalunion Hannover und zugleich Großbritannien regierten: Georg I., II., III. und IV. sowie Wilhelm IV. Um die Amtsgeschäfte für das Königreich Hannover von der britischen Residenz London aus führen zu können, wurde dort während der sogenannten Königlichen Personalunion eine „Deutsche Kanzlei“ eingerichtet bzw. geführt.
Doch in welchem Zusammenhang stehen die vorgenannten Entwicklungen mit dem Münstererhalt in Hameln? Hannoversche Verwaltungsbeamte jener Zeit, die unversehens ihre Aufgaben in London erledigten, haben wohl die in Großbritannien vom Königshaus im Schloss- und Kirchenbau umgesetzte Formensprache der Neugotik quasi über den Ärmelkanal nach Hannover „transportiert“. Private Auftraggeber ließen seiner Zeit im Königreich Hannover sowie andernorts Wohn- und Geschäftshäuser, Reitställe, Mausoleen, Fabrikgebäude im neugotischen Stil errichten. Zahlreiche Gebäude  unterschiedlicher öffentlicher Nutzungen, wie Bahnhöfe, Finanzämter, Amtsgerichte, Schulen, Postämter, Krankenhäuser und Friedhofshallen sind als Architekturdenkmale des „gothic revival“ bis heute erhalten.
Die Formensprache der von 1870 bis 1875 durchgeführten Münsterrenovierung ist ein Beispiel für Restaurierungen sakraler Gebäude im Stil der Neugotik. Zahlreiche von Hofbaurat Hase entworfene Kirchenneubauten zitieren als Stilimport aus Großbritannien in der Baukunst sowie in der Malerei „The english style“.
Weitere Beispiele dafür finden sich im deutschsprachigen Raum Europas sowie im gesamten Britischen Empire und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Als bedeutender europäischer Sakralbau, hier neuromanisch in neubyzantinischer Ausprägung interpretiert, gilt Sacré-Coeur in Paris; Baubeginn 1875, kriegsbedingt verzögerte Weihe (Erster Weltkrieg) im Jahr 1919.

Vorschriften für den protestantischen Kirchenbau galten auch in Hameln


Für Großbritannien hatte sich unter anderem die 1840 im neugotischen Stil abgeschlossene Umgestaltung von Windsor Castle als „tonangebend“ gezeigt. Königlicher Auftraggeber waren Georg III. sowie der ihm nachfolgende Georg IV. gewesen - beide die Königreiche Großbritannien und Hannover in Personalunion regierend.
Doch 1870 am Hamelner Münster begonnene Baumaßnahmen standen unter einem doppelten Anspruch. Einerseits hatten sie das funktionale Ziel Herstellung der „Gottesdienstfähigkeit des Gebäudes“. Darüber hinaus sollte mit dem Kirchenbauvorhaben eine neugotische Überformung des vorgefundenen mittelalterlichen Bauwerks durchgeführt werden. Mit dem zweiten Schritt kam das „Eisenacher Regulativ“ am und im Münster zur Anwendung. Schließlich ist Hase im Mai/Juni 1861 auf der „Eisenacher Kirchenkonferenz“ Repräsentant des Königreichs Hannover gewesen. Außerdem zählte er zu den Unterzeichnern dieses 1861 publizierten Regelwerks für den Evangelischen Kirchenbau.
Danach hatten evangelische Konsistorien - heute in Evangelisch-lutherischen Landeskirchen als Landeskirchenämter bezeichnet - in ihren Planungen die Einführung neuromanischer beziehungsweise neugotischer Formen im evangelischen Kirchenbau zu beachten.

Wer war dieser Hofbaurat Conrad Wilhelm Hase?



Conrad Wilhelm Hase, Lithografie von L. Schäfer .1845
Quelle: Historisches Museum Hannover
Im Februar 1843 hatte Hase seine Tätigkeit für die hannoversche Regierung als Bauführer der Königlich Hannoverschen Eisenbahndirektion begonnen. 1856 zum Königlichen Hofbaurat ernannt, waren an Hase bereits von unterschiedlichen Fachministerien Aufträge hinsichtlich Bauplanung beziehungsweise für gutachterliche Expertisen ergangen. Daneben blieb Hase zeitlebens als freier Architekt tätig. Hauptberuflich unterrichtete er von 1849 bis 1894 als Lehrer der Baukunst – ab 1878 als Professor – an der Hannoverschen Ingenieurschule. Diese Polytechnische Schule wird ab 1879 die Bezeichnung Königlich Technische Hochschule tragen, deren spätere Umbenennung in Leibniz Universität Hannover bis heute Bestand hat. Hase hatte von der preußischen Provinz-Regierung den Auftrag zur Wiedererrichtung des Hamelner Münsters erhalten. Dieses von Hamelns Hauptpastor Schläger langjährig verfolgte Ziel war unter der vorherigen, bis 1866 andauernden welfischen Regentschaft nicht erreicht worden. Bauplanung und oberste Bauaufsicht lagen in Hases Hand, während ihm für die Bauleitung vor Ort Mitarbeiter seines Architekturbüros in Hannover zur Verfügung standen.
Bis zu 25 Spezialisten des Bauhandwerks wurden von ihm beschäftigt. Hase war im Königreich Hannover eine anerkannte Persönlichkeit, woran sich auch nichts änderte, als Hannover preußische Provinz wurde. Hase, inzwischen namhafter Baumeister der „Hannoverschen Architekturschule“, gilt als Hauptvertreter des (deutschen) neugotischen Mal- und Architekturstils.


Sängersaal, Detail aus dem Fresko „Der Sängerkrieg“ von Moritz von Schwind, 1855 Wartburg/Eisenach.
Quelle: Sammlung Schloss Wartburg.

Das Ergebnis des von ihm geleiteten Münsterwiederaufbaus kann heute nur teilweise betrachtet werden, dennoch ist das Hamelner Münster Dokument der neugotischen Formensprache geblieben. So weist etwa das Farbprogramm der Münsterfenster die Handschrift Hases in den 1870er Jahren auf. Mit der Ausmalung des Hohen Chors nahm der Hofbaurat stilistisch (nicht im Motiv!) Bezug zur 1854 bis 1856 im Sängersaal der Eisenacher Wartburg ausgeführten Malerei. Hase wird als Teilnehmer der Eisenacher Kirchenkonferenz 1861 die teilweise neu erbauten Räume der renovierten „Stammburg“ der Protestanten, wie auch den Sängersaal besichtigt haben.
Wie an anderen Orten in Niedersachsen, beispielsweise im Kloster Loccum, finden sich auch in der evangelisch-lutherischen Stiftskirche Fischbeck (Stadt Hessisch Oldendorf) Fresken im neugotischen Stil. Nach umfangreichen Renovierungsarbeiten waren dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1903) die Innenraumwände ausgemalt worden. Der Entwurf für die neugotische Schablonenmalerei stammte von dem Hannoveraner Hermann Schapers (1853 bis 1911). Die zuvor erfolgte Ausmalung des Hamelner Münster-Chores steht möglicher Weise in Verbindung mit der erhaltenen, neugotischen Malerei in der Fischbecker Stiftskirche. Denn zwischen Hermann Schapers und Hase hat folgende Verbindung bestanden: Von 1871 bis 1873, während Schapers Ausbildung als Zeichner, war der 20-Jährige an der Polytechnischen Schule Hannover Schüler in der von Hase geleiteten Zeichenklasse. Eine Beteiligung Schapers an der Entwicklung des Bildprogramms bzw. an der Übernahme (Kopie) vorhandener neugotischer Kirchenfresken für den Hohen Chor des Hamelner Münsters ist vorstellbar.
Schließlich war es gängige Praxis, dass Hases Studenten in seinem Atelier, welches sich in seinem Wohnhaus Am Klagesmarkt in Hannover befand, für den Hofbaumeister Skizzen und Entwürfe fertigten. Deren Ausarbeitung erfolgte dann durch erfahrene Mitarbeiter oder den Meister selbst.

"Pasdtorenbank" im Hamelner Münster. Fertigung 1975 durch Tischlermeister H.Lorenz unter Verwendung von Seitenwangen einer Münster Kirchenbank, deren Entwurf von Conrag Wilhelm Hase stammt. (um 1873) Aufnahme 2021 Quelle: Privatarchiv Müller

Über die im Hamelner Münster an den Wänden des Hohen Chors aufgetragenen Freskomalereien (sie sind immer noch vorhandenen!) ist nur wenig bekannt - bei Renovierungsarbeiten wurden sie übergeweißt. Der ehemalige Münsterpastor, nun im Ruhestand, Hans-Dietrich Ventzky berichtet, dass 1966 bei seinem Dienstantritt in Hameln, Wände des Hohen Chors sowie die Halbkuppel der Apsis-Decke in der Elisabeth-Kapelle keine Malereien getragen haben.
Hamelner erlebten, dass bei der unter Leitung von Architekt Friedhelm Grundmann, Hamburg (1925 bis 2015) von 1970 bis 1975 durchgeführte große Münstermodernisierung das „Vorgefundenne“ - die neugotische Kirchenausstattung - weitgehend ablehnt wurde. Ausstattungsteile, wie Chorgestühl, Kanzel und Altaraufsatz wurden entfernt und die Wilhelm-Furtwängler-Orgel aus der Hase-Zeit eingelagert. Der neugotische Stil des hölzernen Kirchenmobiliars war unmodern geworden. Inzwischen ist in dieser Frage eine Neubewertung erfolgt, so dass neugotische Kunst in Architektur und Malerei nun aufwändig restauriert werden.
Wie seiner Zeit unter Conrad Wilhelm Hase, wurde erneut der aktuellen Kunstauffassung der Vorzug gegeben. Es erstaunt nicht, dass Baumeister Conrad Wilhelm Hase zu Beginn des Münsterwiederaufbaus der 1870er Jahre kaum Teile der hölzernen Kirchenausstattung vorgefunden hatte; Priechen und Kirchenbänke waren bereits 1810 als Altholz verkauft worden. Unter Grundmanns Leitung kam dann die „neue Zeit“ ins Münster. Wobei technische Lösungen für Heizung, Wasser- und Energieversorgung sowie für die Gebäudedrainage im Mittelpunkt standen.
„Aus den mehrere Meter breiten, eichenen Kirchenbänken sind unter Verwendung der Sitzflächen, der geschnitzten Seitenwangen sowie der Arm- und Rückenlehnen „Pastorenbänke“ geschreinert worden“ berichtet Pastor i. R. Hans-Dietrich Ventzky. Er hatte 1966 als Pastor sekundaris im Münster seine Amtsgeschäfte aufgenommen und, woran sich noch viele Gemeindemitglieder erinnern, die nachfolgende große Umbauphase bei „laufendem Gemeindebetrieb“ bewältigt.
Von den hölzernen Einbauten im Hamelner Münster sind die aus Eichenholz gefertigten Türen der drei Kirchenportale nach wie vor in Gebrauch. Das eiserne Beschlagwerk trägt auf der Innenseite der Hauptportal-Türen deren Fertigungsjahr 1873. Das historische Kirchenportal heißt seit nahezu 150 Jahren Gottesdienstbesucher und weitere Gäste des Münsters willkommen.

Dr. Marion Müller sucht historische Fotografien vom Hohen Chor beziehungsweise von der als Sakristei genutzten Elisabethkapelle des Hamelner Münsters, auf denen historische Wand- sowie Deckenmalereien zu sehen sind.
Die Autorin ist erreichbar unter: E-Mail Dr. Marion Müller: m.h.mueller-aerzen@t-online.de



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